15.11.2023

Vor dem Beitritt kommt die Reform

LZ-Chefredakteur Detlef Steinert

Seit die Ukraine gegen die russischen Invasoren kämpft, unterstützt die EU das Land auf unterschiedliche Weise. Jetzt empfiehlt die EU-Kommission, Verhandlungen über einen Beitritt aufzunehmen. Das brächte die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) an ihre Belastungsgrenzen, wenn die Bedingungen bleiben, wie sie sind.

Vergangene Woche hat Ursula von der Leyen in ihrer Funktion als Kommissionspräsidentin der EU vorgeschlagen, mit der Ukraine Verhandlungen über einen Beitritt des Landes zur Staatengemeinschaft aufzunehmen. Bis es zum Vollzug kommen würde, ist es noch ein langer, ein sehr langer Weg. Für von der Leyen ist es deshalb wohlfeil, solche Vorschläge in die Welt zu setzen, weil sie womöglich nicht in die Bredouille kommt, den schwierigsten Part eines solchen Unterfangens noch in einer (dieser oder vielleicht einer weiteren) Amtszeit zu begleiten. Denn es geht bei solchen Schritten um viel; zum Beispiel darum, dass die Kandidaten eine lange Liste von Voraussetzungen demokratischer, wirtschaftlicher oder verwaltungstechnischer Standards erfüllen. Da hat die Ukraine zum Beispiel beim Thema Korruptionsbekämpfung noch Nachholbedarf, obwohl ihr große Fortschritte bescheinigt werden.

Natürlich geht es auch um viel Geld. Das fließt deswegen, weil neue Länder zur Gemeinschaft dazukommen, nicht üppiger. Im Gegenteil. Das Ringen um die Mittel wird zunehmen, weil sich die Neuen vor allem erhoffen, dass die EU mit kräftigen Finanzspritzen ihrer Wirtschaft und ihrem Staatswesen auf die Sprünge hilft. Das war bei der letzten Erweiterungswelle um zehn Staaten im Jahr 2004 so. Das ist von den Kandidaten zu erwarten, mit denen gerade verhandelt wird. Und das wird bei den aktuellen Anwärtern für Beitrittsverhandlungen nicht anders sein, zu denen neben der Ukraine auch die Republik Moldau sowie Bosnien und Herzegowina gehören.

Wenn man zu Europa steht und die EU für den besten Garanten für Stabilität und Frieden auf dem Kontinent hält, darf es am Geld nicht scheitern. Allerdings dürfen vor lauter Euphorie, mit der Aufnahme der Ukraine oder weiterer Staaten dem mächtigen Russland die Stirn zu bieten oder auf der weltpolitischen Bühne eine gewichtigere Rolle zu spielen, nicht die Schwierigkeiten vergessen werden, in denen sich die EU schon jetzt befindet, oder die Herausforderungen, die auf sie zukommen. Das trifft auf die generelle Verfassung der Gemeinschaft zu, wo es mit jedem Mitglied schwieriger wird, das Einstimmigskeitsprinzip einzuhalten. Und das gilt genauso für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP).

Betrachtet man allein die finanzielle Seite eines Ukrainebeitritts, wird klar, dass die EU sich selbst und ihre Organe neu strukturieren muss, um einen Beitritt dieser Dimension zu stemmen. Je nach Statistik (und Vorkriegsverhältnisse unterstellt) würde die landwirtschaftliche Fläche der EU mit einem Mal um mindestens 20 % größer. Gemessen am Vorkriegsniveau beträgt das Bruttonationaleinkommen pro Kopf in der Ukraine gerade mal gut ein Drittel des EU-Durchschnitts. Das würde massive Kohäsionszahlungen bedingen. Wäre die Ukraine bereits 2022 Mitglied der EU gewesen, würden Kohäsionsgelder und Agrargelder, die an Kiew gehen, den Brüsseler Haushalt in Höhe von 170 Mrd. € mit 20 Mrd. € belasten. Unter solchen Bedingungen müssten bisherige Nettozahler wie beispielsweise Deutschland oder die Niederlande noch stärker zur Kasse gebeten werden; manche Nettoempfänger würden zu Nettozahlern. Natürlich sind solche Berechnungen, wie sie eine Studie aus Estland kürzlich angestellt hat, reine Fiktion. Aber sie machen deutlich, welcher finanzielle Kraftakt auf die EU zukommen würde und welche Zerreißproben sie möglicherweise bewältigen muss. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán wird nicht der Einzige bleiben, dem ein Beitritt deswegen ein Dorn im Auge ist.

Um erfolgreich weiter am Haus Europa bauen zu können, müssen die Institutionen der EU und ihre Gepflogenheiten auf den Prüfstand. Dazu gehört auch die GAP als größter Etatposten. Schon jetzt bringen sich die Interessengruppen in Stellung und ringen um die Ausrichtung ab der nächsten GAP-Förderperiode, die 2028 beginnt. Bis die Ukraine von den EU-Töpfen partizipiert, wird man gewiss schon über die Bedingungen der übernächsten Förderperiode diskutieren. Wie die GAP dann ausgerichtet sein wird, dafür werden die Weichen aber früher gestellt. Hier ist es unverzichtbar, die realen Umwelt- und Gesellschaftsleistungen, die Betriebe hierzulande über die Lebensmittelproduktion hi­­naus bereits erbringen, mit einfachen Mitteln verlässlich zu definieren und angemessen zu honorieren. Ansonsten werden sie angesichts von Produktivitätsvorteilen, die ukrainische Betriebe hinsichtlich Größe, Arbeitskosten und natürlicher Standortbedingungen in Friedenszeiten haben, nur schwer mithalten können.