07.12.2022

Was auf den Verzicht folgt

LZ-Chefredakteur Detlef Steinert

Bei ihrem Naturschutzpaket lässt die EU-Kommission Bereitschaft durchblicken. Aber noch ist nicht klar, wie tragfähig ihre neue Zugänglichkeit ist. Währenddessen tritt die Bundesregierung in Berlin in Sachen Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln aufs Gas. Die Kehrseite des Verzichts auf dem Acker könnte Verbrauchern und Naturschutz gar nicht schmecken.

In NRW würde kaum ein Acker verschont bleiben, würden Vorstellungen der EU-Kommission Wirklichkeit. 50 % weniger Pflanzenschutzmittel bis 2030 und ein Totalverbot in sensiblen Gebieten – das waren die Pläne, welche die EU-Behörde vorgelegt hat. Und sie sind es noch. Auch ein inoffizielles Papier, das aus Kommissionskreisen stammt, ändert offiziell und verbindlich nichts an ihrer Position. Und auch Zugeständnisse, die Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides gegenüber dem Agrarausschuss des EU-Parlaments geäußert hat, nehmen keine Einigung im Trilog zwischen Kommission, Agrarrat und Parlament über das EU-Naturschutzpaket vorweg, das neben dem Vorschlag für die SUR-Verordnung („nachhaltige Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“) noch einen Vorschlag für eine Verordnung zur Wiederherstellung der Natur („Nature Restoration Law“) enthält.

Zwar sind das Papier und die Äußerungen von Kyriakides Signale dafür, dass die EU-Kommission zugänglicher bei dem Thema geworden ist. Besser täte sie aber daran, ihren Vorschlag komplett zurückzuziehen. Einmal, weil die Mehrheit im Agrarministerrat ihre Ablehnung bekräftigt hat. So schilderte es Norbert Lins, Vorsitzender des Agrarausschusses im EU-Parlament, bei seinem Besuch im Rheinland (siehe S. 14/15), wo er Argumente der Praxis gegen die Verordnung sammelte. Lins lieferte einen zweiten Grund, warum ein Rückzieher besser wäre: im weiteren Verfahren seien aus dem Parlament unzählige Änderungsanträge zu erwarten – nicht nur aus der konservativen EVP-Fraktion, der Lins angehört (siehe S. 7). Deshalb kann man sich seiner Forderung – „ab damit in den Papierkorb“ – nicht nur aus verfahrenstechnischen Fragen der Gesetzgebung anschließen. Man kann seiner Forderung auch inhaltlich folgen. Denn, was die EU-Kommission vorhat, grenzt an eine Entmündigung und ein staatliches Bewirtschaftungsdiktat, das keine Rücksicht auf praktische Erfordernisse oder wechselnde Witterungsverhältnisse nimmt, wie sie in der Landwirtschaft nun mal oft auftreten.

Offenheit gegenüber der inhaltlichen Kritik ist aber nicht nur aus Rücksicht auf die Sorgen der Landwirtinnen und Landwirte geboten. Man darf und man muss auch die Folgen berücksichtigen, die weit über die Landwirtschaft hi­­nausreichen können. Das thematisierten die Bäuerinnen und Bauern Lins gegenüber ausführlich. Weniger Pflanzenschutz hierzulande kann bedeuten: größere Risiken für die Versorgungssicherheit der Bevölkerung, eine Verteuerung der Produktion und damit weiter steigende Lebensmittelpreise, die die Ärmsten der Welt immer weniger aufbringen können, eine Verlagerung der Erzeugung ins Ausland, wo sich Produktionsbedingungen und ihre Auswirkungen auf Natur, Mensch und Umwelt europäischen Normen entziehen, Zerstörung von Naturräumen, um Anbauflächen zu schaffen, sowie Belastungen für die Flora und Fauna hierzulande sowie das Klima, bedingt durch häufigere Traktorüberfahrten infolge des vermehrten Einsatzes mechanischer Bekämpfungsmethoden. Für diese und weitere mögliche Folgen gibt es jedoch keine aktualisierte Abschätzung. Was bislang als Folgenabschätzung vorliegt, berücksichtigt jedenfalls nicht, wie sich die Rahmenbedingungen infolge der Coronapandemie und des Kriegs gegen die Ukraine verändert haben. Stattdessen argumentiert und handelt die EU-Kommission auf der Basis überholter Einschätzungen. Das sollte ebenso wie die Ablehnung in Parlament und Rat für einen Rückzieher der Kommission reichen.

Für den Fall, dass sie einen Rückzieher machen sollte, scheint die Bundesregierung allerdings vorzubauen. Denn sie will den Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln (NAP) weiterentwickeln und schon im kommenden Jahr ein Pflanzenschutzmittelreduktions-Programm vorlegen. Auch das soll dafür sorgen, den Pflanzenschutzaufwand um 50 % zu senken. Besser als die Keule auszupacken (und gegebenenfalls an EU-Vorgaben vorbei zu handeln), sollte sich Agrarminister Cem Özdemir seinen Parteigenossen und Landesvater von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, zum Vorbild nehmen. Der steht ohne Vorbehalt zu dem kooperativen Ansatz, den vor wenigen Jahren Landwirtschaft, Natur- und Umweltverbände sowie die Politik im Ländle ausgehandelt haben. Der hat auch ohne staatliche Gängelung zu merklich weniger Pflanzenschutzmitteleinsatz geführt (siehe S. 9). Und er bestätigt, dass die Landwirtschaft bereit ist mitzuziehen – wenn man ihre Bedürfnisse und Einwände ernst nimmt.