09.10.2024

Aufgeschoben ist noch nicht aufgehoben

LZ-Chefredakteur Detlef Steinert

Die EU-Kommission will den Unternehmen bei der landläufig als Entwaldungsverordnung bezeichneten EUDR eine Schonfrist einräumen. Stichtag soll nun der 1. Januar 2025 und nicht mehr der 1. Januar 2024 sein. Für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) verschiebt sich der Termin um ein weiteres halbes Jahr. Mehr als ein Aufschub ist das nicht.

Man fühlt sich schon ein wenig an den vormaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, erinnert. Der sagte 1961, niemand hätte die Absicht, eine Mauer zu errichten. Zwei Monate später, im August 1961, machten Bautrupps ernst und errichteten die Berliner Mauer. Begründet wurde sie als Schutz gegen den Imperialismus aus dem Westen, real diente sie, ebenso wie die Hunderte Kilometer langen Grenzanlagen, dem Machterhalt des SED-Staatsapparates. Vor wenigen Tagen haben wir den Tag der Deutschen Einheit gefeiert und damit die Überwindung der Drangsal des sozialistischen Regimes in einem Teil unseres Landes.

Sie meinen, dieses geschichtliche Ereignis mit der sogenannten Entwaldungsverordnung (EUDR) zu vergleichen, sei unpassend? Ich gebe zu, vielleicht ein wenig überspitzt, aber trotzdem zutreffend. Denn so, wie viele in den Anfangsjahren der DDR an das gute Ziel des Sozialismus glaubten, war der Ursprungsgedanke für diese Verordnung auch, etwas Gutes zu bewirken – nämlich die Wälder vor zerstörerischer Vernichtung zu schützen. Von daher rührt auch der Name EUDR, der für EU Deforestation Regulation – übersetzt entwaldungsfreie Lieferketten – steht. Gedacht hatte man in Brüssel dabei vor allem an die tropischen und subtropischen Wälder, die man durch Rodung und anschließende Nutzung für Plantagen oder als Weideland gefährdet sieht. Nicht bedacht hat man dabei, dass eine solche Regelung nicht beschränkt werden darf auf Staaten außerhalb der EU, sondern dass auch europäische Unternehmen in die Pflicht zu nehmen sind und genauso nachweisen müssen, dass bestimmte Rohstoffe – laut Verordnung Palmöl, Rinder, Soja, Kaffee, Kakao, Holz und Kautschuk sowie daraus hergestellte Produkte – eben nicht dadurch erzeugt wurden, dass dafür Wälder abgeholzt wurden. Entlang der Wertschöpfungskette – also von Erzeugung bis Handel – sind dabei alle Stufen in der Pflicht, entsprechende Belege herbeizuschaffen,

Das wird von betroffenen Branchen, in Deutschland vor allem Land- und Forstwirtschaft, kritisiert: wegen des Aufwands, wegen Unklarheiten der Datenerhebung und wegen Zweifeln, ob die staatliche Infrastruktur zur Erfassung überhaupt schon gewährleistet ist. Die heimischen Waldbauern argumentieren, dass man sich der Idee dahinter gut anschließen könne. Doch die Umsetzung in Brüssel ersticke die Betriebe. Außerdem werde die Waldfläche hierzulande nicht kleiner, sondern im Gegenteil sei nach dem Raubbau des Dritten Reichs die Waldfläche kontinuierlich angewachsen.

Der Rheinische Landwirtschafts-Verband (RLV) mahnt vor unabsehbaren Risiken für die Betriebe, die Rinder halten. Mit Inkrafttreten der EU-Entwaldungsverordnung würde „neben einer gesonderten Registrierung und der Abgabe von Sorgfaltspflichterklärungen insbesondere eine detaillierte Geolokalisation der beweideten Flächen sowie der Zeitpunkt oder Zeitraum der Erzeugung vor der Abgabe jedes einzelnen Rindes verlangt”. Auch andere legen den Finger in die Wunde, dass die Verordnung ohne Not einen unverhältnismäßigen Aufwand entstehen lässt; man kann auch sagen: Bürokratie produziert. Große Lebensmittelkonzerne sehen das Thema gelassen. So hat sich laut Agrarnachrichtendienst AgE Ferrero (Nutella, Kinderschokolade) hinter die Verordnung gestellt. Mondelez (Milka) will seine Lieferketten bis Jahresende entsprechend aufstellen. Unilever (Knorr) hat nach eigenen Angaben 97,5 % der wichtigsten Rohstoffe als entwaldungsfrei zertifiziert. Heimische Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft, etwa Viehhandel und Schlachtunternehmen, oder der Säge- und Möbelindustrie sind dagegen nicht so entspannt.

Entspannung könnte aber bei ihnen und den heimischen Rinderhaltern und Forstbetrieben einkehren, wenn die EU-Kommission tatsächlich einen Schritt weitergeht. Sie kann, wie erwähnt, aus rechtlichen Gründen die in der EU ansässigen Betriebe nicht ausnehmen, aber sie kann sehr wohl dafür sorgen, die Auskünfte über die Sorgfaltspflichten dieser Unternehmen zu vereinfachen oder sogar ganz zu streichen – dann, wenn sie für die entsprechenden Staaten oder klar umgrenzten Regionen feststellt, dass dort nur ein geringes oder gar kein Entwaldungsrisiko besteht. So würde sicher niemand auf die Idee kommen, Walter Ulbrichts Ausspruch auf die Brüsseler Bürokraten umzumünzen, die sich die EUDR ausgedacht haben: „Niemand hat die Absicht, die Bürokratie ausufern zu lassen …“