15.01.2025

Gegen das Vergessen

LZ-Chefredakteur Detlef Steinert

Dass nach mehr als 35 Jahren die Maul- und Klauenseuche wieder in Deutschland festgestellt wird, damit hat wohl kaum jemand gerechnet. Das Auftreten der Seuche ruft eines in Erinnerung: Nichts ist selbstverständlich; um Selbstverständlichkeiten muss jeden Tag gerungen werden.

„Irgendwas ist anders, aber was?“ – Ich kann mir vorstellen, dass sich viele Besucher der Internationalen Grünen Woche, die am Freitag in Berlin ihre Pforten öffnet, das fragen. Vor allem, wenn sie in die Halle 27 kommen, die als Tierhalle ausgeflaggt ist. Dort wird anders als in den vergangenen Jahrzehnten kein Muh und kein Mäh zu hören sein. Das Auftreten der Maul- und Klauenseuche (MKS) in einem Büffelbestand im benachbarten Brandenburg erfordert es, Paarhufer von der Messe fernzuhalten.­

Damit gerechnet, dass nach über 35 Jahren die Tierseuche wieder in Deutschland festgestellt wird, hat wohl kaum jemand. Höchstens Virologen hatten ein potenzielles Risiko auf dem Schirm. Tatsächlich hatten auch sie bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe der LZ Rheinland keinen Anhaltspunkt, wo sich die drei Büffel, die in der Vorwoche verendet auf der Weide gefunden wurden, sowie die anderen elf Tiere der Herde, bei denen verdächtige Symptome festgestellt wurden, infiziert haben. Spekuliert wird viel: Waren es umherziehende Wildschweine, die auch bei der Verbreitung der    Afrikanischen Schweinepest (ASP) eine Rolle spielen? Wurde das Virus mit Futtermitteln eingeschleppt? Oder lässt sich das Virus – wie 2001 bei dem MKS-Ausbruch in Großbritannien – zu einem Forschungslabor zurückverfolgen?

Solche Mutmaßungen helfen aber kaum weiter. Zu wissen, wo die Infektion ihren Ursprung hat, ist allerdings wichtig, um einer weiteren Verbreitung entgegenzuwirken. Genauso wichtig ist natürlich im Blick zu haben, welche Kontaktgelegenheiten es zu anderen Betrieben gegeben hat. Bundesweit sind die Veterinärbehörden und Nutztierhalter in Habacht-Stellung. Man darf froh sein, dass aufgrund der Erfahrungen mit der ASP oder der Geflügelpest statt hoffnungsloser Ratlosigkeit jetzt eine enorme Sensibilität für die Bedrohungslage herrscht.

Gerade landwirtschaftliche Betriebe, die von der Tierhaltung leben, haben in den vergangenen Jahren viel geleistet, um die Biosicherheit ihrer Bestände auszubauen. Sie ringen quasi täglich darum, ihre Herden gesund zu erhalten, um für den Menschen unbedenkliche Lebensmittel anbieten zu können. Für Verbraucherinnen und Verbraucher ist die ständige Verfügbarkeit solcher und anderer Lebensmittel schlicht eine Selbstverständlichkeit. Die Versorgungsengpässe, die teils während der Coronapandemie und nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zu verzeichnen waren, haben viele längst wieder vergessen.

Das kurze Gedächtnis darf man ihnen nicht übel nehmen. Aber man muss die Politik immer und immer wieder daran erinnern, dass diese Leistung der Landwirtschaft kein Selbstläufer ist. Deshalb tun die Interessenvertreter der Landwirtschaft gut daran, allen Parteien zur Bundestagswahl mit auf den Weg zu geben, dass für Ernährungssicherheit zu sorgen kein Thema aus der Mottenkiste, sondern ein hochaktuelles Thema ist. Wie im Fall der Freiheit von der Maul- und Klauenseuche kann eine Selbstverständlichkeit auch ohne eigenes Verschulden schnell dahin sein. Fehlen erst einmal Lebensmittel in den Läden, stellen sich Verbraucherinnen und Verbraucher sicher nicht die Frage: „Irgendwas ist anders, aber was?“ Dann wird die Frage lauten: „Warum hat niemand etwas dagegen unternommen?“

Politikern, Wissenschaftlern, Interessenvertretern und Behörden darf man ruhig ein Lob aussprechen, dass sie – auch wenn es schon Jahre her ist – die Grundlagen für das heutige Seuchenmanagement gelegt haben. Das hat uns vor schlimmsten Bildern flächendeckender Massentötungen, die heute kaum noch zu rechtfertigen sind, bewahrt und begrenzt hoffentlich auch aktuell das Risiko. Gut ein Dreivierteljahrhundert ist es schon her, dass Politiker in Europa eine zentrale Aufgabe darin gesehen haben, die Lebensmittelversorgung zu verbessern und sicherzustellen. Damit eng verknüpft ist die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union (EU). Vergessen sollte das niemand, wenn es um die Zukunft der EU und ihrer Aufgaben geht – vor allem, weil die Warnschüsse aus der Coronapandemie und dem Krieg gegen die Ukraine noch nicht verhallt sind.