Gesehen
Es ist Mitte Mai und damit herrscht auf unserem Hof täglich ein reges Treiben, denn die Spargelsaison ist in vollem Gange. In diesen Monaten besteht unser Alltag stets darin, im Laufschritt Dinge zu erledigen, zu telefonieren und zu organisieren und natürlich (wer kennt es nicht?) zu improvisieren. Zeit zum Durchatmen oder für soziale Kontakte bleibt kaum. Umso mehr hat mich ein sogenannter Goldmoment berührt, den ich zuletzt erleben durfte. Goldmomente sind solche, die uns in unserem Alltag unerwartet etwas Schönes bescheren. Und von diesem möchte ich nun berichten:
Es war ein normaler, wuseliger Samstagmorgen, als ich eine WhatsApp-Nachricht von Regina Laudage-Kleeberg erhielt. Regina war lange Jahre im Radio bei „Kirche in WDR“ zu hören und hat im vergangenen Jahr das Buch „Obdachlos katholisch – Auf der Suche nach einem religiösen Zuhause“ geschrieben. Mit diesem hatten wir, sie und ich, im Mai 2023 eine Lesung arrangiert, die leider abgesagt werden musste. Persönlich kannten wir uns also (noch) nicht. Sie schrieb „Ich fahr jetzt gleich zu einer Beerdigung bei euch in der Nähe nach Niederkrüchten. Davor habe ich noch ein Stündchen Zeit.“ Ich lud sie kurzerhand ein. Gut zwei Stunden später war sie da und fragte vorsichtig, ob ich Zeit für einen Kaffee hätte. Ich nahm mir gerne die Zeit. Dabei erzählte ich ihr, wie meine Eltern den GeHo zu dem gemacht haben, was ich nun in die vierte Generation führen darf. Aber auch von der Situation mit Philipp und unseren Höfen. Von meinem Weg zur Jungunternehmerin, verbunden mit allen Höhen und Tiefen. Sie hörte mir zu und schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit.
Nachdem Regina weitergefahren war, hallte dieses Treffen den ganzen Tag nach, sodass ich mich später bei ihr für diese kleine Auszeit, diesen Goldmoment, bedankte. Sie antwortete prompt und bescherte mir damit eine Gänsehaut: „Du hast mich heute mit Reflexion und Tapferkeit sehr beeindruckt. Ich konnte sehr gut sehen, was für einen Berg du bewegst und wie viel Kraft es kostet.“
Liebe Leserinnen und Leser: Auch wenn es schwer in diese Kolumne zu fassen ist, hat mir dieses Treffen wieder einmal gezeigt, dass wir viel zu selten auf das stolz sind, was wir jeden Tag leisten. Ich fühlte mich wortwörtlich einfach von Regina gesehen. Und ich wünsche Ihnen, dass auch Sie in Ihrem Alltag solche Goldmomente erleben beziehungsweise von anderen für Ihre tagtägliche Leistung gesehen werden und auch Sie selbst andere dafür sehen.
Christina Ingenrieth