11.06.2025

Dankbarkeit im Jetzt

Foto: Elena Peters

Es gibt Tage auf unserem Hof, da erwische ich mich dabei, richtig in Selbstmitleid zu versinken. „Nur ich bin diejenige, deren Wecker um 4.20 Uhr klingelt, während alle anderen noch schlafen können. Nur ich habe wieder vergessen, dass unser Spezialkunde die Sortierung X und nicht Y wollte oder nur ich muss an Vatertag arbeiten, wenn alle anderen bei bestem Wetter eine Fahrradtour machen und ihr Leben genießen.“ Ich könnte die Liste problemlos so weiterführen.

Als ich vor fast viereinhalb Jahren die Zusammenarbeit mit meiner Mentorin begann, war das mit einer der ersten Verhaltensweisen, die sie an mir erkannte. Sie erklärte mir: „Es ist einfacher, den Fokus da­rauf zu lenken, was gerade nicht gut läuft oder was einem fehlt. Damit Sie Ihre Freude an der Arbeit und am Leben aber nicht verlieren und vor allen Dingen nicht davon krank werden, ist es wichtig, sich anzutrainieren, den Blickwinkel zu ändern.“

Sie gab mir die Aufgabe, mir morgens ein paar Minuten Zeit für mich zu nehmen. In diesen soll ich täglich drei Dinge aufschreiben, für die ich dankbar bin, und welches Highlight heute auf mich wartet. Funfact am Rande: Nicht selten ist mein Highlight aktuell „keine Abendtermine – früh schlafen“.

Seitdem sind mittlerweile über 1 500 Tage vergangen und demnach schon einige „Dankbarkeitstagebücher“ vollgeschrieben. Ich trainiere also täglich und verfalle dennoch, wie Sie eingangs sahen, gerade in Stresszeiten wie der Spargelsaison schnell in diese Muster zurück. Eine Aussage von Cory Muscara hat mich aber wieder an das Ziel des Dankbarkeitstagebuchs erinnert. Er wurde als ehemaliger Mönch aufgrund seiner bodenständigen, ansprechenden und zugänglichen Lehren über Achtsamkeit, Wohlbefinden und geistige Gesundheit bekannt: „Wenn du deinen Geist nicht da­rauf trainierst, das Gute zu schätzen, wirst du auch in Zukunft nur nach etwas Besserem Ausschau halten, selbst wenn die Dinge gut laufen.“ Genau das ist die Krux meiner aktuellen Situation. Ich suhle mich in Selbstmitleid, obwohl es mir/uns gut geht: Die Saison läuft gut, die Preise für unsere Herzensprodukte sind stabil und Kunden und Gäste sind mit unserem Service und der Qualität zufrieden. Zudem fühle ich mich ganz persönlich in unserem neuen Haus sehr wohl und finde noch Zeit, mich um die Planung unserer Hochzeit zu kümmern.

Es geht also da­rum, Dankbarkeit da­rin zu finden, was bereits vorhanden ist, und nicht den Fokus da­rauf zu legen, was nicht da ist. Daher werde ich täglich weiter trainieren und erfreue mich gerade an zwei Kleinigkeiten: an der frisch aufgebrühten Tasse Kaffee, die vor mir auf dem Schreibtisch steht, und der leise vor sich hin summenden Mitarbeiterin, die hinter meinem Bürocontainer gerade frische Blumen schneidet. Christina Ingenrieth

Christina Ingenrieth