27.03.2024

Positiv zurückschauen, stark in der Gegenwart sein

Foto: Sigrid Tinz

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können – so stand es früher mal im Poesiealbum. Erinnerungen können allerdings auch sehr quälend sein. Dann möchte man in diesem Paradies gar nicht bleiben, weil es eine Hölle ist. Außerdem weiß man, wie ungenau Erinnerungen sein können, wie leicht sie sich verfälschen lassen. Genau das kann man sich zunutze machen.

Das genannte Zitat stammt von Jean Paul. Er war ein bedeutender deutscher Dichter, Publizist und Pädagoge des 18. Jahrhunderts, bekannt für seine humorvollen und ironischen Romane, die oft von seinen eigenen Lebenserfahrungen und philosophischen Ansichten geprägt waren. Für Jean Paul waren Erinnerungen ein Ort des Trostes und der Freude, der uns immer zur Verfügung steht, selbst wenn wir physisch oder zeitlich weit davon entfernt sind, weit weg sind von einem glückseligen Zustand. Selbst in schwierigen Zeiten können Erinnerungen dann Hoffnung und Kraft geben.

Was der Dichter damals sagte, wurde in der psychologischen und neurologischen Forschung durchleuchtet – und bestätigt. Simon Forstmeier ist Professor an der Uni Siegen und hat unter anderem erforscht, wie Erinnerungen und die Art des Erinnerns unser Wohlbefinden fördern können. Er hat dazu die Methode der sogenannten Lebensrückblickgespräche entwickelt, die im professionellen Rahmen in der Altenpflege oder bei einer Psychotherapie nach einem bestimmten Muster ablaufen werden. In mehreren Sitzungen werden nach einer bestimmten Struktur und chronologisch von der Kindheit bis zum jetzigen Zeitpunkt die wichtigsten Erinnerungen durchgesprochen. „Hilfreich sind Fotos, Tagebücher, Urkunden oder andere wichtige Gegenstände, um alles möglichst lebendig und detailliert wachzurufen“, erläutert Forstmeier in einem Interview mit der Zeitschrift Psychologie heute diese Methode.

Umgang mit Traumata

Nun könnte man einwenden: Wenn jemand viel Schlimmes erlebt hat – einen prügelnden Vater, Armut, Krankheit, Mobbing, Krieg, Unfälle oder Trennungen – wie sollen solche Erinnerungen das aktuelle Wohlbefinden fördern? Wäre es dann nicht besser, alles ruhen zu lassen?

Ja und nein. Es geht natürlich nicht darum, sich im Elend zu suhlen. Negatives Erinnern ist eher obsessiv: Man grübelt, kommt nicht raus und das schlimme Ergebnis fühlt sich an, als würde es gerade erst passieren. Deswegen sollten Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder auch depressiv Erkrankte einen solchen Lebensrückblick nur in Begleitung von professionellen Therapeuten starten. Sie können aber laut Forstmeier sehr davon profitieren. Das Trauma werde dann zum Beispiel in die Biografie integriert. Integrieren bedeutet in diesem Fall, dass ein schlimmes Ereignis nicht bis in alle Ewigkeit als das „Schlimmste, was passieren konnte“ in unseren Gedanken ist. Sondern eher neutral. Es positiv zu sehen, ist oft sicherlich nicht möglich und auch nicht nötig. Es ist passiert und jetzt ist es so. Ein bisschen wie das Wetter.

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