11.12.2024

Qualifiziert zum Abschluss?

LZ-Chefredakteur Detlef Steinert

25 Jahre haben die EU und die Mercosur-Staaten über ein Freihandelsabkommen ­verhandelt. Ausgerechnet am Nikolaustag kam es nun zu einer Einigung. In trockenen Tüchern ist es damit noch nicht.

Welche Rolle die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag vergangener Woche gespielt hat, liegt wohl im Auge des Betrachters. Für viele überraschend war sie selbst zu den Abschlussverhandlungen über das Abkommen zwischen den vier südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay und der EU nach Montevideo gereist. Von der Leyen lobt, dass es sich hierbei um die größte Handels- und Investitionspartnerschaft handele, die die Welt je gesehen hat. In der Tat würde aufgrund des Abkommens eine Freihandelszone mit gut 700 Mio. Menschen entstehen – vorausgesetzt, es nimmt in der EU alle Hürden. Und das sind vor allem die 27 Mitgliedstaaten und deren Parlamente.

Als Nikolaus, der artige Kinder einmal im Jahr mit Geschenken belohnt, haben die vier südamerikanischen Präsidenten von der Leyen sicher nicht empfunden. Strotzen sie, allen voran Luiz Inácio Lula da Silva, Staatsoberhaupt von Brasilien, doch allesamt vor Selbstbewusstsein. Zwar sind sie noch nicht alle über den Berg, aber die größten wirtschaftlichen Probleme der zurückliegenden Jahre scheinen die vier Staaten weitgehend überwunden zu haben. Kein Wunder, dass sie vor allem in den vergangenen Monaten die Muskeln haben spielen und unverhohlen haben durchblicken lassen, dass es neben der EU auch andere Staaten gibt, mit denen sie sich vielversprechende Handelsbeziehungen vorstellen können. China zum Beispiel, ebenso Indien und durchaus auch Russland. Solche Drohkulissen machen Eindruck, erst recht, wenn im eigenen Binnenmarkt das Gespenst der Rezession umgeht. Vielleicht ist Ursula von der Leyen gerade deswegen angereist, damit sie persönlich einen prall gefüllten Stiefel in Empfang nehmen kann. Denn Wirtschaftsverbände in Europa setzen große Hoffnung auf leichter zugängliche Absatzmärkte. Auch von Politikern in Deutschland gab es noch einen Tag zuvor großen Zuspruch. Außer den Vertretern der Parteien ganz links und rechts lobten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ausgiebig die bevorstehende Einigung. Beim Handelsausschuss der EU löste die Übereinkunft dann sogar Jubelstürme aus.

Von der Leyen hat für diesen Stiefel aber Prinzipien, die sie selbst in ihrer ersten EU-Amtszeit mit auf den Weg gebracht hat, und Zielsetzungen für ihre zweite Amtszeit zur Seite gewischt. Schon vor dem Amtsantritt des neuen EU-Agrarkommissars gemahnte sie, dass dieser sich eng an den Ergebnissen des sogenannten Strategischen Dialogs orientieren und darauf sein Arbeitsprogramm aufbauen soll. Ein zentraler Punkt dabei ist es, die Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität der EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Im Rahmen des Green Deal, von dem die Kommissionspräsidentin nach wie vor nicht gänzlich abgerückt ist, spielen Klimaschutz und Tierwohl sowie Fragen des Umwelt- und Biodiversitätsschutzes eine wichtige Rolle. Das alles sehen Kritiker der nun vereinbarten Handelsregeln aber im Kern verletzt. Sie sehen den Nikolaustag als schwarzen Freitag – nicht nur für die Landwirtschaft! – an und Ursula von der Leyen eher als Knecht Ruprecht oder Hans Muff, der mit seiner Rute die Kinder straft. Allerdings zu Unrecht straft – wenn man auf die hiesige Landwirtschaft schaut: Nicht sie ist es, die keinen Mindestlohn kennt; nicht sie ist es, die noch mit Nicotinoiden Schädlinge bekämpft; nicht sie ist es, die gegenüber Mitarbeitern die soziale Verpflichtung außer acht lässt.

Auch wenn die vereinbarten Freihandelsquoten im Vergleich zu den in der EU selbst erzeugten Mengen eher überschaubar sind: Neben Zweifeln an den Sozial- und Umweltstandards in den Mercosur-Staaten lassen auch Befürchtungen, dass über kurz oder lang weitere Zugeständnisse bei den Agrarimporten folgen, Widerstände gegen eine Ratifizierung erwarten. Für eine Zustimmung braucht es eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 15 EU-Ländern, die wenigstens 65 % der Einwohner repräsentieren. Gescheitert wäre das Abkommen dann, wenn vier Länder dagegen sind, die mindestens 35 % der Bevölkerung stellen. Der Schritt dahin ist nicht sehr groß. Es fehlt noch ein Land. Polen und Italien haben sich bereits dagegen gestellt, Frankreich sowieso. Dessen Staatspräsident, Emmanuel Macron, hat Ursula von der Leyen von der festlichen Wiedereröffnung der vor fünf Jahren ausgebrannten Kath­edrale Notre-Dame, einem Nationalheiligtum Frankreichs, ausgeladen. Deutlicher hätte Macron von der Leyen nicht disqualifizieren können.