Überleben am Rand der Erde
Im Nordwesten Sibiriens auf der russischen Jamal-Halbinsel lebt das indigene Volk der Nenzen. Sie sind Nomaden und betreiben mobile Weidewirtschaft mit Rentieren.
Die Anreise zu den Rentierhaltern in den Nordwesten Sibiriens ist ein Abenteuer für sich. Drei Tage lang dauert die Reise mit der Eisenbahn von St. Petersburg über das letzte Stück auf der nie fertiggestellten Polareisenbahn nach Labytnangi. Dort steigt man in einen alten russischen Militärtruck, um die Eisstraße passieren zu können, die über die 14 m tief zugefrorene Flussmündung der Ob in die Stadt Salechard führt. Dann geht es weiter mit einem Geländewagen Richtung Norden zur Jamal-Halbinsel. Die letzten 20 km sind nur noch mit dem Schneemobil befahrbar.
Leben im Zelt
Die Nenzen sind Rentierhalter. Sie leben abgeschieden in der Tundra. Als Nomaden bleiben sie nie lange an einem Platz und sind daher sehr schwer zu finden. Wer sie besuchen möchte, braucht einen Guide. Aleksei Iwanowitsch ist ein solcher. Nenzen heißt übersetzt „Menschen“ und Jamal bedeutet „Rand der Erde“, erklärt er.Nach der langen Anreise durch die menschenleere Landschaft ist es in der Tat, wie am Rand der Erde anzukommen. Irgendwo im Nirgendwo steht ein Tschum, das traditionelle Zelt der Nenzen. Hier lebt Familie Taybarey: Vater Jacov (50), Mutter Tatjana (55), die Söhne Micael (26) und Anatole (30) und Tochter Mariane (24). Das Zelt steht auf einer leichten Erhöhung zum übrigen Flachland. Das hat seine Gründe. Die Tundra ist im Sommer ein Meer von Sümpfen und Mooren. Die Winter sind lang und kalt, die Sommer kurz und kühl. Minus 63 °C war die kälteste Temperatur, die er einmal erlebt hat, erzählt Reiseführer Aleksei. Nur rund drei Monate beträgt die Vegetationsperiode, der Permafrostboden taut nur in den warmen Monaten und lediglich an der Oberfläche auf. Hier wächst nicht viel: einige Bäume, Zwergsträucher, Flechten, Moose, Pilze, Gräser und Kräuter.
300 km auf Achse
Landwirtschaft ist in dieser Gegend nicht möglich, die Nenzen leben von der Rentierhaltung. Der Begriff „Haltung“ ist etwas irreführend. Denn die Rentiere sind nicht eingezäunt, sondern die ganze Zeit in der freien Natur unterwegs. Sobald sie nichts mehr zu fressen finden, ziehen Mensch und Tier weiter. Familie Taybarey ist im Jahr rund 300 km auf Achse. Sie folgt in der Regel einem historischen Muster. Die Nomaden kennen die Wanderrouten und Muster der Weidenutzung all ihrer Nachbarn und arbeiten zusammen, um das Weideland flexibel zu nutzen. Im Jahr 1980 gab es nur 363 000 Rentiere auf der Jamal-Halbinsel. Inzwischen sind es rund 600 000. Somit befindet sich auf der russischen Halbinsel die weltweit größte Rentierzucht, die noch traditionell betrieben wird.
Mehr in LZ 49-2024 ab S. 56